Timur Karakus von Schöngeist (Sacha Saxer)
Timur Karakus von Schöngeist (Sacha Saxer)

Schwarz macht schlank: Ein Rückblick aufs 21. Wave Gotik Treffen

Vom vergangenen Donnerstag bis Pfingstmontag sah die Stadt Leipzig vorwiegend eine Farbe: schwarz, schwarzbunt, dunkelweiss – wie man es auch nennen möchte. Etwa 20‘000 Besucher waren extra zum Wave Gotik Treffen angereist und feierten über die vergangenen vier Tage sich selbst, ihre Szene und ihre Künstler.

Städtereisende, welche sich über das Pfingstwochenende eine gemütliche Stadtbesichtigung in Leipzig vorgenommen hatten, dürften ein wenig überrascht von den Horden schwarzgewandeter Menschen in der Innenstadt gewesen sein. Kein Grund jedoch, seinen Stadtbummel auf Eis zu legen, denn Sehenswürdigkeiten gab es zur Genüge zu fotografieren – statt antiken Bauten und Monumenten bekam die Familie daheim anschliessend Netzstrümpfe, Miniröcke, Perücken und jede Menge an weisser Haut und schwarzer Schminke präsentiert.

Die Leipziger Innenstadt wurde mehr oder weniger ungewollt zum Laufsteg und Fotoshooting für die aufwändig und auffallend gekleideten WGT-Besucher. So fuhren auch durchaus «Nicht-Szenegänger» und Schaulustige an diesem Wochenende nach Leipzig, um die kuriosesten und eindrücklichsten Gestalten zu knipsen. Und auch die Leipziger Einheimischen verstecken sich zu Pfingsten nicht zu Hause, gemäss Stimmen aus der Stadtbevölkerung geniessen auch diese den Trubel. Unaufgefordert bestätigten zwei betagte Damen in der Leipziger Innenstadt, jedem der es hören wollte, wie anständig und aufmerksam die Schwarzgewandeten doch seien, gar so, dass sich «ihre Enkelkinder eine Scheibe davon abschneiden könnten». Und «hübsch zurechtgemacht» fanden die beiden die meisten Festivalbesucher auch. «Schwarz macht schliesslich schlank» schmunzelte eine von ihnen, während ein nur halb von einem Mini-Minirock verdeckter Po an ihnen vorbeistolzierte.

Der Geniesser zahlt und schweigt

Die freudige Erwartung der Leipziger auf das Festival liegt auf der Hand: Quellen zufolge werden übers Pfingstwochenende jährlich etwa 15 Millionen Euro umgesetzt. Hotels und Pensionen sind schon Monate vor dem Spektakel restlos ausgebucht und die Festivalbesucher bezahlen ohne mit der Wimper zu zucken die überdurchschnittlich angehobenen Hotelpreise. Der Grufti von heute lässt sich dieses einzigartige Treffen, welches für wohl jeden Szenegänger ein absolutes Highlight darstellt, gerne etwas kosten. Für diejenigen, die keinen Platz mehr in einer Pension gefunden haben, oder bei denen der Geldbeutel etwas flacher ausfällt, hält die Organisation jedoch einen Campingplatz bereit, welcher sich am Stadtrand, direkt beim Agra-Messegelände befindet. So kommt für einige Festivalbesucher doch ein wenig typisches Openairfeeling auf.

Programm oder Reizüberflutung?

Diese Frage stellt sich, wenn man im Pfingstboten blättert; dem gebundenen, bebildterten Programmbuch zum WGT, welches für wenig Geld erwerblich ist. Über 200 Bands treten über die vier Tage auf und das Rahmenprogramm ist ebenfalls unerschöpflich. Die Organisation dieses Grossevents muss nahezu unglaublich sein – das Bereitstellen von Verkehrsanbindungen, die Verteilung von Räumlichkeiten und die Ausstattung der Konzerthallen miteingeschlossen muss eine immense Summe an Arbeitsstunden dahinterstecken. Wer sich gern über sich überschneidende Veranstaltungen ärgert, sollte sich dies vor Augen führen. Wartezeiten, schlechte Verkehrsanbindungen oder Ausschilderungen sind dem WGT ebenfalls fremd, stellen jedoch wichtige Pluspunkte eines jeden Festivals dar und sind nicht für jedes Festival eine Selbstverständlichkeit.

Für die musikalischen Szenegrössen ist ein Auftritt am WGT mehr oder weniger Pflicht. So fanden sich dieses Jahr Clan of Xymox, Project Pitchfork, Diary of Dreams, Peter Heppner, Eisbrecher und Funker Vogt in Leipzig ein – jeder jeweils aus einer völlig anderen musikalischen Ecke aber alle mit demselben Effekt: die vollgestopften Konzerthallen mit einem Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft auszufüllen, durch die gemeinsam gelebte Liebe zur Musik jegliche Oberflächlichkeiten beiseite zu schieben und aus dem verallgemeinerten  «Festival» ein wirkliches Treffen zu machen. Ein Treffen zu Tausenden.

Wer seinem Trommelfell zwischendurch eine Pause gönnen wollte, der fand im Rahmenprogramm mit Sicherheit eine Beschäftigung für den Tag. Entweder mit sanfteren Klängen beim klassischen Konzert in der Thomaskirche, in welcher dieses Jahr am Samstag die Musik des Mittelalters und der Renaissance im Mittelpunkt stand oder auch bei den Orgelklängen im Szenegottesdienst in der Peterskirche; schliesslich sind die Schwarzkittel ja nicht alle Satanisten…

Die Chance, eine der grössten Opernsängerinnen der heutigen Zeit live zu erleben, bot sich ebenfalls am Samstag: die Sopranistin Montserrat Caballé trat in der Oper auf und mit etwas Glück gab es sogar noch einige Tickets zu ergattern.

Wer seine freien Tage in Leipzig beschaulich und ruhig gestalten wollte, der hielt sich am besten beim Viktorianischen Picknick (jedoch bitte etwas abseits des Kamerarummels) im Clara Zetkin-Park auf, machte eine Führung über den Leipziger Südfriedhof mit oder erprobte sein handwerkliches Geschick beim Stricknachmittag für Schwarzromantiker.

Nach dem WGT ist vor dem WGT

Die Reihe an Aktivitäten und Möglichkeiten liesse sich unaufhörlich fortsetzen. Wer das Wave Gotik Treffen einmal besucht hat, wird dies bestätigen – und trotzdem wieder hinfahren. Dem Charme, der dieser Grossveranstaltung trotz der Masse unweigerlich innewohnt,  zu widerstehen ist vermutlich den wenigsten gelungen. Und auch beim nächsten Mal wird man erneut die Entdeckung machen: Es ist unmöglich, alles zu sehen was man sich vornimmt – also geniesst man am besten die Atmosphäre, die spannenden zwischenmenschlichen Begegnungen und Inspirationen und die einzigartige Ausstrahlung der Stadt Leipzig.

 

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