Das B-Sides Festival bei Luzern gehört zu den Lieblingsevents der Musikszene. Grund genug, um selbst einen Trip in die Zentralschweiz zu unternehmen. Ein Rückblick.
Ein Gastbeitrag von Fabienne Hadorn
Seit Jahren wird mir immer wieder von Leuten aus der Musikszene gesteckt, wie toll es sei am B-Sides Festival in Kriens zu spielen. Das Ambiente, die Bands und die Künstlerbetreuung seien vom feinsten, heisst es. Darum freue ich mich umso mehr, als unser Rock-Musical «Rotkäppli – Fressen und gefressen werden!» für Gross und Klein ins Kinderprogramm von der 13. Ausgabe des B-Sides aufgenommen wird.
Als ich das coole Line-Up des Festivals sehe, das vom 14. bis 16. Juni stattgefunden hat, ist es keine Frage, dass ich zusammen mit dem Fotografen Matthias Hoffman schon am Freitag losziehe um vom kleinen Woodstock bei Luzern zu berichten.

Bild: Matthias Hoffmann
Schon die Anreise ans B-Sides ist abenteuerlich. In Kriens bei Luzern geht’s hoch hinauf auf den Sonnenberg. Am besten kommt man mit dem E-Bike, dem Shuttlebus oder romantisch mit der Standseilbahn ans Ziel, denn Öko geht vor beim B-Sides. An der Endstation wird man von kreativer Deko empfangen und durch die zwei Jungs von Obertonstruktur der Kaulquappe mit mobilen Elektro-Sound-Wägelchen, die mit zig Effektgeräten beladen sind, in Festivalstimmung getuned.
Für Zigarettenstummel gibt’s eine kleine Box zum Mitnehmen und auch die leckeren Foodstände haben ein nachhaltiges Konzept. Bei Crêpes und Edel-Kebab bestaunen wir das Festivalgelände zu den chilligen Klängen der Bernerin Pamela Méndez.

Macht einen «Bad Day» zum guten Tag: Long Tall Jefferson. Bild: Matthias Hoffmann
Am Vorabend, am Donnerstag 14.6. ging’s schon los hier. Ein Kollege von Swiss Music Export verrät uns, das Evelinn Trouble das Highlight war und ihr Song Hope das Potential zu einem Welthit habe.
Aber auch heute stehen spannende Schweizer und internationale Acts auf dem Programm. Auf der Hauptbühne spielt Long Tall Jefferson, ein als Strassenmusiker weltweit gereister local hero. Ich freue mich besonders über seinen Auftritt, da ich ihm vor einem Jahr in einem Zürcher Café eine Platte abgekauft habe. Auch heute mit Band überzeugt mich dieser junge Luzerner mit seiner tiefen und berührenden Stimme und seinen melancholischen Lyrics. Dank ihm kann auch mal ein Bad Day zu einem richtigen Genuss werden.
«The next time that you have a bad day,
you should not stay inside, just do it anyway,
put some good music on, and it’s ok,
we all have bad days»
Das diesjährige B-Sides möchte den textlichen Aspekt der Musik hervorheben. Alle Bands haben darum Songtexte eingeschickt, die nun kunstvoll im Programmheft und auf dem Gelände auf Holzinstallationen zu lesen sind. Es lässt sich aber bei den Konzerten auf den drei Bühnen auch sehr gut in Soundwelten abtauchen und zu fetten Beats tanzen. Vor der Zeltbühne zum Beispiel bei den Bombers, die in einer Nebelschwade im Halbkreis mit Synthies, Gitarren und Drums den Sonnenberg mit ihrer Fusion aus Elektronik und rockigen Klängen zur ersten Ekstase treiben.

Bild: Matthias Hoffmann
Und gleich darauf höre ich im «Bohos Welcome», einem kleinen Zelt auf einer Anhöhe, das dicht besucht ist, eine unglaubliche sexy Männerstimme, kann aber keinen Sänger ausmachen, bis ich auf Zehenspitzen entdecke, dass der junge blonde Schlagzeuger von Tin Shelter diesen fast schon erotisierenden Barry White-Style fabriziert. Der Fotograf meint: «Ich sehe, du stehst auf Pornomucke.» Er verzichtet darauf, sich nach vorne zu kämpfen, und sichert sich dafür einen Platz vor der Hauptbühne, wo nun die grösste Combo des Festivals aufspielt.
Zwei Drums, zwei Kontrabässe, zwei Marimbas, zwei Altrocker an E-Gitarren, zwei Posaunen und vier Streicherinnen, also 14 Instrumente, machen das Rock-Ethno-Pop-Punk-Orchestre tout puissant Marcel Duchamps XXL aus. Sie lassen das analoge Musikherz höher schlagen. Man kann sich kaum satt sehen und hören an der Umsetzung dieser rhythmischen und mehrstimmigen Lieder. Es ist ein richtiger Genuss zu sehen, wie die Musiker ihren Instrumenten mit vollem Körpereinsatz diese wilden Sounds entlocken, bis die Haare einer Marimbaspielerin und sogar eines Geigenbogens durch die Luft fliegen.
«Nous sommes les bêtes féroces de l’espoir.»
Nach einer Pause auf der wunderschönen Aussichtsterrasse mit Blick über Luzern by Night hören wir von weitem den mystischen Gesang und die Violine von Sudan Archives. Von nahem geht ihre tolle Stimme und die Geige im dominanten Playback, dem Nebel und dem sehr coolen Outfit, bestehend aus leuchtorangen Hotpants und Boots und einer weissen Bluse mit fliegenden Ärmeln, leider etwas unter.

Blick über die Stadt. Bild: Matthias Hoffmann
Mein Lieblingsoutfit am Festival trägt übrigens der Bassist der Rai-meets-Techno-Combo Ammar 808 & the Magreb United. Mit seiner Sonnenbrille und dem coolen african fashion style mix ist er eine Art nordafrikanische Version des dauergrinsenden P-Funker Bootsy Collins mit einem sehr archaisch-coolen Fellbass. Dieser stützt den arabischen Gesang, die Flöte und die Sounds des Namen gebenden Rhythm Composers TR 808 wunderbar.
Marcel Bieri, der sympathische Festivalleiter mit einem ebenfalls farbenfrohen Hemd, der immer sofort zur Stelle ist, wenn ein Hotelschlüssel gesucht oder ein Auto falsch geparkt wurde, hätte uns noch Chocolat aus Kanada empfohlen, aber kurz nach Mitternacht verlassen wir den Sonnenberg um Kraft zu tanken für den nächsten Tag.
Am Samstagnachmittag nämlich machen wir von Kolypan für Gross und Klein einen Ausflug in die Pop- und Rockgeschichte mit Rotkäppli und Wolf und Songs von Jimmy Hendricks, Ben E. King, U2, Jacko und Madonna und der Bohemian Rapsody von Queen und stellen die Frage: Wollt ihr lieber Fressen oder gefressen werden?
«Ich bi no nie i mim Läbe vomne Wolf gfrässe worde!
Isch mer nachher wie neu gebore oder isch mer denn gstorbe?
Isch das jetzt läss oder tuet das ächt weh? Tuet das weh?»
Auch die Bands, die nach uns spielen, scheinen sich diese Frage gestellt zu haben. Die einen attackieren uns wie Wölfe frontal mit ihrem Sound und ihrer genialen Bühnenpräsenz, und die andern verführen uns und lassen uns in ihre Klang- und Textwelten eintauchen. So wie die ernsthaften Les filles Illighadad aus Niger mit ihrem Touareg-Sound und der im Wasser schwimmenden Kürbistrommel.
Oder die zwei Schweizer Wortakrobaten Michael Fehr und Jurczok 1001. Jurczok imaginiert eine Scheinbevölkerung und eine Welt ohne Junkies und Psychos. Er beatboxt, singt und legt virtuos verschiedene Soundloops unter den ersten gemeinsamen Auftritt mit Micheal Fehr.
«Alli Junkies sind parkiert,
alli Psychos sterilisiert,
alli Monschter sind stillgleit,
alli Irre sind verreist,
It’s a clean city, oh Lord, it’s clean»
Michaels rauchig, funkiger Gesang verpassen mir eine schaurigschöne Hühnerhaut und sein Text Hund die Lust auf einen Friedensschluss mit dem inneren Sauhund!
«Du bist ein dämlicher Hund,
Du sagst,
Du heulst,
Aber ich höre dich nur bellen,
Du sagst,
Du bist weich,
Du machst mich ohnmächtig,
Ich muss etwas Hartes trinken,
Ich ertrage dich nicht,
Du machst nur Unordnung,
Du fällst aus den Wolken,
Und ich hoffe,
Dass es weh tut»

Michael Fehr und Jurczok 1001 – Textakrobaten auf der Bühne. Bild: Matthias Hoffmann
Schön weh tut es dann auch mit den Warm Graves. Mit ihrem düsteren Si-Fi-delic Rock tauchen wir headbangend in eine diabolisch ekstatische Parallelwelt.
Einer meiner liebsten Frontalangriffe kommt aber von den beiden Zürcher Ladies Fox und Mojo von Ikan Hyu. Für mich ein Highlight und eine Entdeckung. Mit unglaublicher Kraft und extrem viel Spass bedienen sie zu zweit virtuos diverse Elektronik, einen Synthi, eine E-Gitarre und ein Drumset, singen und rappen dazu wie androide Engel und bringen das Bohos Welcome zum Kochen.
Doch es gibt auch noch kleinere musikalische Auftritte auf dem Gelände. Hinter der Aussichtsterrasse kann man über einen selbstgezimmerten Flipperkasten das Jazztrio Die krummen Buben auslösen, indem man die Kugel entweder ins Cheesy- Groove- oder Chill-Fach schiesst.
Ophelias Iron Vest sind überall auf dem Gelände mit ihrem Pop-up-Country anzutreffen, und die Minuten zwischen den grossen Acts füllt die mobile One-Man-Band La Barbie mit Blues-Rock-Cumbia-Reggea-Punk-Trash, und just nachdem La Barbie in die Masse schreit:
«Ich wott sterbä, aber ich wott nöd in Himmel gah, ich wott id Höll!»

Reverend Beat-Man bot eine intensive Show. Bild: Matthias Hoffmann
Da steht auch schon der diabolische Reverend Beat-Man auf der Hauptbühne und predigt sein Voodoo-Rhythm-Mantra von der Entstehung der Welt, der Sünde und den «humans that fucked around like rabbits»!
Zusammen mit seiner grossartigen Band The New Wave, mit Resli Burri an den Tasten und der wunderschön singenden Säge, Mario Batkovic, der angeblich schonmal alleine in der ausverkauften Elb-Philharmonie mit seinem Akkordeon aufgespielt hat, Julian Sartorius, der angesagteste Drummer der Schweiz, der wohl mit Drumsticks an den Händen geboren wurde, und der amerikanisch-mexikanischen Sängerin Nicole Izobel Garcia mit ihrer tief dramatischen Stimme und dem coolen Pokerface, begeistert der Berner Prediger und Inhaber des legendären Labels Voodoo Rhythm Records das Publikum mit Songs über die Liebe und den Tod.
«You are on top baby and I am under you!»

Romano, der Rapper aus Köpenick, bot ein wahres Feuerwerk. Bild: Matthias Hoffmann
Währenddessen werden im Backstage dem Köpenicker Cornerboy Romano von der Festival-Leiterin Jennifer Jans die Zöpfe geflechtet. Und nachdem er uns von Negative White dort ein Interview gegeben und mit Ikan Hyu noch ein bisschen gefreestylet hat, lässt Romano auf der Hauptbühne fast zeitgleich mit dem B-Sides-Feuerwerk aufrufen zu Brenn die Bank ab und verteilt dem Publikum, das tanzend die Bühne stürmt, einen Klaps auf den Po.
«Alle meine Freunde kriegen einen Klaps auf den Po,
Küsschen hier, Küsschen da – ne,
Klaps auf’n Po!»

Romano-Fans holen sich einen Klaps ab. Bild: Matthias Hoffmann
Im Publikum sind unzählige Musiker des Festivals auszumachen, die mit den Festivalbesuchern mitfeiern, tanzen und diskutieren. Auch dies ein weiteres Zeichen, dass das B-Sides einfach etwas Besonderes ist.
Zu den souligen Klängen von Muthoni Drummer Queen aus Nairobi verlassen wir gesättigt und glücklich das Gelände. Am Ausgang folgen wir der Aufforderung der Songtext-Installation der Genfer Band Los Orioles «Ecris ton nom sur les mures» und schreiben, wie viele andere Festivalbesucher, unsere Namen an die Mauer und die Treppe – in der Hoffnung nächstes Jahr wiederzukommen.
P.S.: Übrigens lohnt es sich in die unplugged Aufnahmen verschiedener KünstlerInnen vom B-Sides reinzuklicken, die rund ums Festival als sogenannte Fieldsessions gedreht wurden. Es werden fortlaufend Videos der diesjährigen Ausgabe hochgeladen.