Wie Musik mich davor bewahrt abzustumpfen

Es lief mir kalt den Rücken hinunter an diesem warmen, sonnigen Tag. Es war im Sommer 2014, ich hatte gerade mein Praktikum im «10vor10» begonnen. Damals war die Terroristen im Irak und in Syrien auf dem Vormarsch. Und ich sah, was die wenigsten – glücklicherweise – nicht sehen. Bilder, die ich nie mehr vergessen werde. Erschiessungen. Gekreuzigte und enthauptete Menschen. Jeder Würde beraubt. Ich habe erfahrene Journalistinnen und Journalisten mit einem Aufschrei den Tränen nahe gesehen.

Heaven-Shall-Burn_Combat

Mehr als einen Tag verbrachte ich mit diesen albtraumhaften Szenen. Als Journalist bin ich jeden Tag schrecklichen Meldungen ausgesetzt. Leid, Blut, Verzweiflung. Tod. Man muss sich abgrenzen, sonst zerbricht man. Aber selbst die Abgrenzung birgt Gefahr: Abstumpfung. Ihr kennt das, wenn eine neue Push-Meldung auf eurem Smartphone aufblickt: «Mindestens 10 Tote bei einem Amoklauf in den USA.» Und was ist der erste Gedanke? «Nur?» – Abstumpfung eben. Eigentlich sollte jeder frühzeitige Tod schon schlimm genug sein.

Manchmal frage ich mich, ob ich – ob wir – die Fähigkeit zur Empathie verloren haben. Irgendwie müssen wir alle mit der Flut an Schreckensnachrichten aus dieser anscheinend kaputten Welt fertig werden. Ich weigere mich aber, meine Menschlichkeit in der Gleichgültigkeit auflösen. Dabei hilft mir die Musik. Melodien mit heilender Wirkung und Texte mit anklagendem Wut geschrieben.

[su_quote cite=“VNV Nation – Nemesis“]I want justice for the voice that can’t be heard,
Vindication for every suffering and hurt.[/su_quote]

Genau beschreiben, wie mir die Musik genau hilft, der Apathie zu entfliehen, kann ich nicht. Wahrscheinlich würde es sich neurologisch erklären lassen, weil durch die Musik andere Gehirnregionen aktiviert und Hormone, Emotionen stimuliert werden. Auf jeden Fall wird mir beim Hören gewisser Songs immer wieder schlagartig die Realität bewusst, ohne Filter, ohne Umschweife. Sie springt mir ins Gesicht wie eine wilde Bestie und kriecht unter meine Haut. Es ist kein schönes Gefühl, es ist beklemmend. Trotzdem spüre ich dann: Ich bin hier. Mein Bewusstsein ist noch da, ich fühle.

[su_quote cite=“Heaven Shall Burn – Combat“]You are an orphan now
Adopted by the beast of war
The end of all your childhood dreams has come
A life in combat, forevermore [/su_quote]

Auf wundersame Weise bewahrt mich die Musik davor abzustumpfen. Vielleicht weil sie keine Kompromisse macht. Vielleicht weil die Musiker nicht ständig ihre Aussagen abwägen und relativieren. Ob das naiv ist oder ideologisch oder sie einfach bessere Menschen sind – wer weiss das schon. Sicher ist, dass sie mir keine Ausreden durchgehen lassen. Songs fokussieren einen auf den kritisierten Umstand besser als alles andere. Musik als Instrument des Sich-Bewusstwerdens und der Katharsis zugleich. Deshalb möchte ich die Musik nicht missen.

[su_youtube url=“https://www.youtube.com/watch?v=1Rh_cAOmG9U“][ https://www.youtube.com/watch?v=U0mf7rsTOBU ][/su_youtube]