Sind wir eine Bande von Heuchlern?

Heuchler sollen wir sein, weil wir um die Toten in Paris trauern, aber das Elend im Rest der Welt vergessen.

Die Anschläge in Paris machen uns betroffen. Wir fragen uns, wieso es solche Grausamkeiten gibt, obwohl wir genau wissen, dass sie täglich geschehen. Nur eben nicht in unserer Nachbarschaft.

Heute scrolle ich also durch den Facebook Feed und werde auf mehrere Posts aufmerksam, die uns im behüteten Europa mehr oder weniger direkt der Heuchelei bezichtigen. Etwa dieses Bild:

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Abgesehen davon, dass beten kaum helfen wird, die Herausforderungen unserer Zeit anzugehen, vereinfacht dieses Statement die Welt.

Nachrichten werden bewertet

Die zentrale Rolle bei der Vermittlung von Ereignissen übernehmen die Medien. Allgemein unbekannt ist, dass auch Nachrichten von Journalisten bewertet und gefiltert werden. Unzählige Agentur-Meldungen erreichen die Redaktionen täglich und nicht alles ist gleich interessant. Diese Filter-Funktion von Medien nennt man «Gatekeeping».

Den Wert einer Nachricht wurde bereits im frühen 20. Jahrhundert anhand der Nachrichtenwert-Theorie von Walter Lippmann untersucht. Lippmann nennt dafür zehn Faktoren, die den Wert mitbestimmen:

  1. Überraschung (oddity)
  2. Sensationalismus
  3. Etablierung
  4. Dauer
  5. Struktur
  6. Relevanz
  7. Schaden
  8. Nutzen
  9. Prominenz (big names)
  10. Nähe (proximity, nearness)

Anhand dieser Faktoren lassen sich auch die schrecklichen Ereignisse in Paris bewerten. Niemand hat damit gerechnet (Überraschung) und die Nähe zu unserer eigenen Lebenswelt sind nur zwei Nachrichtenwerte, die hier mit Sicherheit zutreffen.

Jeder Tote ist einer zu viel

Dass diese «Heuchler-Anschuldigung» stets bei tragischen Geschehnissen auftauchen, ist kein Zufall. Sie bewegen uns und führen uns vor Augen, dass dieses Elend überall geschieht.

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Denken wir aber mal ausserhalb der «Breaking News». Auch in Afrika werden die Herden der Bauern von Raubtieren angegriffen. Interessieren tut uns das wenig, ganz im Gegensatz vom Wolf oder Bären in der Schweiz. Das ist nicht weiter schlimm, wir können und müssen nicht alles wissen.

Jetzt geistern also diese Statements gegen Heuchelei durchs Netz. Doch ich habe keinen einzigen Betroffenheits-Beitrag gelesen, als sich die Attentäter in Beirut Menschen in den Tod rissen. Auch nichts zu den Hungernden auf der ganzen Welt. Es ist genauso heuchlerisch, anderen diesem Moment Heuchelei vorzuwerfen, obwohl man sich sonst nicht um die anderen Tragödien schert.

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Das heisst nicht, dass wir unsere Aufmerksamkeit nicht öfters dem grossen Bild schenken sollten. Dass wir die Ungerechtigkeiten nicht beseitigen sollten. Es ist gar eine moralische Pflicht, das zu tun. Aber Tode statistisch zu vergleichen, ist dafür keine Lösung. Es ist sogar pietätlos. Jeder Tote ist einer zu viel.

[su_box title=“Solutions Journalism – ein Lösungsansatz“ style=“soft“ box_color=“#999″]

Dass Journalismus viel zu oft negativ ist, hört man immer wieder. Eine Strömung innerhalb der Medienwelt – «Solutions Journalism» oder «Solutions-based Journalism» – möchte diesem Urteil entgegenwirken. Was genau das bedeutet, liest du hier.[/su_box]

  1. Der eingebettete Facebook-Eintrag des Herrn Ahrendt ist das klassische Anti-Imperialismus-Mimimi, das sich leider sowohl links als auch rechts immer mehr im politischen Diskurs einnistet. «Die wären nicht so böse zu uns, wenn wir nicht so gemein zu ihnen wären» ist eine Lüge, und zwar eine mit kulturell masochistischem Anstrich. Wir wollen uns doch nicht etwa einreden, dass totalitäre Ideologien, Dikataturen und Genozide erst existieren, seit es die NATO gibt.

    Das heisst aber nicht, dass die USA mit dem willkürlichen Stürzen von demokratischen Regierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Allende in Chile, Makarios in Zypern etc.) nicht gegen Völkerrecht verstossen hätten und insbesondere Henry Kissinger deshalb der Prozess gemacht werden müsste. Es heisst aber auch nicht, dass der «Westen» pauschal der Verursacher aller Bürgerkriege ist. Das wäre eine doktrinäre Weltsicht. Und die brauchen wir in diesen Zeiten weniger denn je.

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