Kampf gegen das System

Die Filme «Class Enemy» und «Millions Can Walk», die am FIFF 2014 gezeigt wurden, behandeln dasselbe diffizile Thema auf vollkommen verschiedene Art. Eine Gegenüberstellung.

Millions Can Walk

Jeder durfte ihn in seinen Jahren als Schüler einmal begegnen: Diesem unglaublich strengen Lehrer, der jedem schlechte Noten erteilt und den man am liebsten auf den Mond schiessen würde. Nach dem Abschluss ist man froh, ihn nie wieder sehen zu müssen und vergessen zu können.
Nicht so im Film Class Enemy: Für die Schüler einer slowenischen Schule ist Vergessen keine Option mehr. Ihr neuer Deutschlehrer Robert Zupan, der ihre schwangere Lehrerin ersetzt, ist streng, und das missfällt der Klasse zutiefst. Als sich, nach einem vertraulichen Gespräch mit dem Lehrer, die Schülerin Sabine das Leben nimmt, ist für die Klasse eines klar: Schuld trägt allein Professor Zupan.
Mehr und mehr sehen sie den Lehrer als ihren ganz persönlichen Feind und die Schule als das System, das es zu zerstören gilt. Der Selbstmord wird als Vorwand für eine klasseninterne Rebellion genommen, die plötzlich kaum mehr aufzuhalten ist und aus der Lehrer Zupan als psychisches Wrack hervorgeht.

Eine Geschichte aus dem Leben

Diese Geschichte spielte sich in ähnlicher Form an der High School des Regisseurs Rok Biček ab. Die Idee nahm Biček also aus seinem eigenen Leben. Der Film ist ein Porträt der modernen Gesellschaft auf den Mikrokosmos eines Klassenzimmer reduziert, in dem soziale und altersbedingte Vorurteile dazu führten, dass eine friedliche Lösung beinahe unmöglich wurde.

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Dieser für einen Oscar nominierte Film war fast vollständig mit Laienschauspielern besetzt. Da Biček die Jugendlichen dazu brachte, vor der Kamera zu leben und nicht zu schauspielern, sind dem Team trotzdem hervorragende Szenen gelungen. Class Enemy soll zu Diskussion zwischen den verschiedenen Generationen, insbesondere zwischen Lehrern und Schülern, anregen. „Beide der streitenden Parteien hatten Recht und trotzdem haben beide verloren“, so Biček, „weil beide unfähig waren, einander zuzuhören.“

Adivasi, Ureinwohner Indiens

Zugehört wurde den Tausenden von Indern, die im Kampf um ihre Rechte die 400 Kilometer von Gwalior nach Dehli zu Fuss bewältigten: Ein Marsch der Adivasi, der Ureinwohner von Indien, die von ihren Ländereien verscheucht wurden, damit Fabriken gebaut werden können. Die Adivasi leben grösstenteils von Ackerbau und sind häufig Selbstversorger. Oft leben sie abseits der Städte und haben darum nicht die nötige Bildung, um einen gut bezahlten Job zu bekommen. Das Sammeln von Früchten und Gemüse im Wald steht unter Strafe. So ist ihnen ohne Land jegliche Lebensgrundlage genommen. Sie werden in die Armut getrieben. Die Adivasi stehen als Nicht-Hindus auf derselben Gesellschaftsstufe wie die Unberührbaren, was ihre Situation zusätzlich erschwert.

Ein Marsch der Verscheuchten

Als von der sozialen Hilfsorganisation Ekta Parishad und ihrem Leiter Rajagopal dazu aufgerufen wird, gemeinsam für ein Indien zu marschieren, in dem jeder den gleichen Zugang zu Land, Wasser und Wald garantiert bekommt, folgten diesem Ruf 100’000 Adivasi aus ganz Indien. Teilweise hatten sie Reisewege von einer Woche zu bewältigen und kein Geld, um sich ein Ticket zu kaufen. Trotzdem machten sie sich auf den langen Weg, denn sie hofften, damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Kindern eine bessere Zukunft sichern zu können.
Indien kennt man als buntes Land, und genau so bunt sind die Bilder des Dokumentarfilms Millions Can Walk gehalten, der die Geschichte dieses friedlichen Protestmarsches festhält. Die Initianten liessen sich vom gewaltfreien Widerstand Gandhis inspirieren und die Unterdrückten verschafften sich – vielleicht gerade dank dieser friedlichen Haltung – tatsächlich Gehör bei der Regierung. Bereits nach halbem Weg empfing Indiens Minister für ländliche Entwicklung den Leiter von Ekta Parishad und lancierte eine Vereinbarung in zehn Punkten, die eine Landreform versprach.

Allen Mühen zum Trotz

Der Schweizer Regisseur von Millions Can Walk, Christoph Schaub, konnte bei den Dreharbeiten des Films nicht dabei sein, da er aus politischen Gründen Indien nicht mehr betreten darf. Die Arbeit vor Ort hat der Co-Regisseur Kamal Musale übernommen, der selbst Halb-Inder ist, während Schaub für den Schnitt zuständig war.
Trotz all der organisatorischen Mühen hat sich der Film gelohnt. Er zeigt Bilder von einem Ereignis, das für uns von fast unvorstellbarer Grösse ist. Ausserdem zeigt er all denen, die der Meinung sind, dass man ohne Kampf seine Ziele nicht erreichen kann, dass „Kampf“ nicht gleich „Kampf“ ist: Selbst Regisseur Schaub, der zugab, eigentlich kein Anhänger der Nonviolence-Strategie gewesen zu sein, ist nach der Erfahrung mit dem Marsch von Ekta Parishad davon überzeugt, dass gewaltlose Proteste am Ende zu einer besseren Lösung führen, und dass man einfach so lange auf der Wahrheit beharren muss, bis man angehört wird und sich etwas ändert.

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Die beiden Filme regen zum Nachdenken über sich selbst und unseren Umgang mit Mitmschen an. Viele der grossen Probleme der Menschheit entstanden seit jeher auf Grund von Missverständnisse. Und gegen Missverständnisse hilft nur eines: Genaues Hinsehen und Zuhören.
Zugehört wird am Ende denjenigen, die einem auch die Möglichkeit zur Diskussion geben. Wo Gespräche keine Option mehr sind und man davon ausgeht, dass  nur direkter Kampf und Gewalt zum Ziel führen, kann ein Protest keine Früchte tragen. Gegen die Ungerechtigkeit im System kann man auf viele Arten kämpfen, und oft ist die offensichtlichste nicht die beste.

Weitere Infos zum Film

Millions Can Walk ist ab dem 16. April auch in den Westschweizer Kinos zu sehen.