Identität auf Umwegen

Geradezu meisterhaft erzählt Shira Geffen in ihrem neuen Film «Boreg – Self Made» die Geschichte von zwei Frauen, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnten. Bis sie in der Verworrenheit und Verwirrtheit des Nahen Ostens vertauscht werden, ohne dass es jemand merkt. Nach «Jellyfish», mit dem Geffen mehrere Preise gewonnen hat, gelang ihr erneut ein Coup.

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Von der ersten Sekunde an erhält Geffen in Boreg die Spannung aufrecht. Jede neue Wende ist ein neuer Höhepunkt, eine Überraschung, eine Steigerung. Nachdem die junge israelitische Künstlerin Michal (Sarah Adler) eines Morgens aus dem Bett fällt und dabei ihr Gedächtnis verliert, beginnt für sie die Selbstfindung: Nach und nach erfährt sie, wer sie ist, und wird somit definiert von anderen Menschen, die glauben, sie zu kennen. Durch Interviews mit Journalisten, Begegnungen mit Fans und beim Belauschen von Kunstkritikern wird Michal bewusst, dass sie eine radikal-feministische Anti-Israelitin war, die sich für ihr Land und den jämmerlichen Wunsch von Frauen, Kinder haben zu wollen, schämte. Als sie ihre eigene Ausstellung besucht um zu sehen, worin ihre Kunst bestand, schaut sie sich ein Video an, in dem sie einer Journalistin erklärt, dass ihr bei einer Operation die Plazenta entfernt wurde, welche sie zuvor mit Chemikalien gefärbt und in Zukunft als Handtasche benutzen wolle.

Geradezu paradox ist die Szene, in der ihr eine Übersetzerin klar macht: «Your womb is on its way to the Biennale.» Denn dort soll das grosse Geheimnis um Michals derzeitiges Schaffen demnächst gelüftet werden. Bestürzt über diese Erkenntnis und angeekelt von sich selbst oder der Person, die sie einmal war, schliesst sie sich in der Toilette des Museums ein und provoziert einen weiteren Schlag auf den Kopf, indem sie sich an die Tür lehnt bevor ein Sicherheitsmann sie aufbricht. Sie findet sich bei einem ihrer Kunstwerke, auf eine Betonmauer an der Grenze zu Palästina gemalte Sonnenblumen, wieder, wo sich erstmals die Schicksale von ihr und Nadine (Samira Saraya) direkt kreuzen.

boreg self made
Szene aus dem Film. (Foto: zvg)

Diese sitzt seit sie denken kann in ihrem Alltag, der daraus besteht, von morgens bis abends in einem Möbelwarenhaus Schrauben in kleine Säckchen zu packen, fest, und hat keine Chance darauf, dass sich ihr Leben je verändern könnte, obwohl sie eigentlich genau weiss, was sie will: ein Kind. Dieses schenkt ihr der geheimnisvolle Nachbar mit der roten Baseball-Mütze (Doraid Liddawi), der sich sowohl auf dem Gelände, wo sie arbeitet, wie auch in ihrer Nachbarschaft ständig herumtreibt, und der sich am Ende als Michals Ehemann herausstellt, von dem man denkt, er befinde sich geschäftlich in Stockholm, und der eigentlich gar kein Mechaniker ist, sondern Leute mit umgeschnürten Bomben über die Grenze schickt.

Die Frauen werden gemeinsam inhaftiert, und als die Kommandantin einer der Soldatinnen befiehlt, den Star, der hier fälschlicherweise festgenommen wurde, nach Hause zu fahren, geschieht die Verwechslung, die das Schicksal der beiden Frauen besiegeln soll: die mürrisch und düster aussehende Nadine steht selbstbewusst auf, um sich abführen zu lassen, während die verwirrte und verletzte Michal auf dem staubigen Boden sitzen bleibt. Aus dem Autofenster kann die Palästinenserin beobachten, wie ihr Koffer der bleichen Israelitin ausgehändigt wird und man sie bittet, zu gehen. Sie selbst wird ins Heim der Künstlerin gefahren, wo sie eine mit Kisten aus dem Möbelhaus, in dem sie früher arbeitete vollgestellte Wohnung mit Krabben in Badewanne und Abwaschbecken vorfindet. Diese sollten eine Überraschung werden für ihren Mann, der, als sie skypen, weder bemerkt, dass nicht seine Frau vor ihm sitzt, noch erkennt, dass es sich um die Frau handelt, die er kurz vorher geschwängert hatte.
Sowohl Nadines Wut über diese Erkenntnis wie auch die Tragweite seiner doppelten Identität entladen sich in der roten Mütze, die er sich aufsetzt, kurz bevor der Laptop zugeknallt wird. Währenddessen wird Michal auf ihre letzte Reise vorbereitet, mit einem höchstens vierzehnjährigen Jungen auf dem Schoss wird sie über die Grenze gefahren, als sie Chauffeur und Kind aus den Augen verliert landet sie im Möbelhaus, wo sie sich ein Mobile kauft.

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Nicht nur die Geschichte als Zeugnis einer Gesellschaft, in der man so austauschbar ist wie eine Visitenkarte, und eines Krieges, der alle Beteiligten blind sein lässt, ist beeindruckend, auch die Symbolik, die Geffen einfliessen lässt, zeugt von höchsten ästhetischen und poetischen Ansprüchen. Für sich selbst spricht die Farbe Blau, die immer wieder zu sehen ist, ob auf Michals Fingernägeln, ihrer Kunst oder in Nadines Kleidern, die sie vollends umhüllen, und die Identitätssuche sowie ihr Verlust oder die Angst vor jenem werden verbildlicht durch Nadines fehlenden Orientierungssinn, der sie zwingt, Schrauben mitgehen zu lassen und diese als Wegmarkierungen zu Boden fallen zu lassen, und darin, dass sie sich später in Michals Auto vom Navigationsgerät zum Meer navigieren lässt.

Geffens Film ist eine Meisterleistung von A-Z und wohl eine der zutreffendsten Beschreibungen verschiedenster moderner Phänomene; vom permanenten Druck auf Frauen und ihrer Angst, ihm nicht standzuhalten oder sich ihm zu leichtfertig zu fügen, von der scheinbar unlösbaren Problematik eines der kompliziertesten Krisenherde der Welt und von der Schwierigkeit, jemand zu sein – und zu bleiben.

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